Wenn es um das Dolmetschen geht – doch das betrifft weitaus nicht nur das Dolmetschen – spielt Neutralität eine große Rolle. Wir DolmetscherInnen sind neutral zu allen GesprächsteilnehmerInnen. Aber was heißt es eigentlich „neutral“ zu sein? Eine Äquidistanz zu allen GesprächsteilnehmerInnen zu wahren? Wie gehe ich als Dolmetscherin damit um, wenn ein Gesprächsteilnehmer Behauptungen formuliert, die meinen Ansichten ganz und gar widersprechen? Die eventuell sogar in der Öffentlichkeit nicht ausgesprochen werden sollten, vielleicht sogar gar nicht dürfen? Kann ich diese Aussagen neutral behandeln – also sie genauso scharf, wie der Gesprächsteilnehmer sie formulierte, wiedergeben? Was machen diese Sätze in meinem Mund mit mir? Genügt es mir, dass ich weiß, dass ich das nur sage, weil ich gerade meine Dolmetschweste trage?
Meine Erfahrung lehrte mich, dass es unglaublich schwer ist, neutral, also den Register beibehaltend, (und richtig!) zu formulieren, wenn ich dem Gesagten widerspreche und auch nicht nachvollziehen kann, warum eine Person so eine Meinung hat. Das Dolmetschen ist dann nicht nur sprachlich anstrengend, da ich mich ständig frage, ob ich das denn tatsächlich richtig verstehe, sondern auch psychisch. Die Person, für die ich dolmetsche, hat Ansichten, die meinen und vielleicht auch meinem Lebensstil diametral entgegenstehen. Das bei mir ausgelöste Entsetzen mit einem Pokerface zu überspielen, ist neben allen anderen Aufgaben, die ich während des Dolmetschens zu beachten habe, noch eine zusätzliche Aufgabe, die ich häufig nicht mehr erfüllen kann – meine Dolmetschweste bekommt dann Löcher.
In solchen Fällen Aufträge abzulehnen, wäre ehrlich zu allen GesprächsteilnehmerInnen. Mir ist Neutralität wichtig, ich möchte aber nicht Worte in den Mund nehmen müssen, die meinen Ansichten ganz und gar widersprechen!